Es sieht düster aus für die Utopie. Selbst nach einigem Nachdenken fallen mir als utopische Romane nur „Utopia“ von Thomas Morus und Hermann Hesses „Das Glasperlenspiel“ ein. In der Philosophie sieht es da schon etwas besser aus. Platons „Politea“ oder die Werke von Karl Marx und Friedrich Engels, um nur zwei Beispiele zu nennen. Dabei ist keines dieser Werke besonders jung. Dystopien scheinen der Utopie im letzten Jahrhundert den Rang vollständig abgelaufen zu haben. Ist die Utopie Tod? Und was bedeutet es, dass Bücher wie „1984“, „Schöne Neue Welt“, „Fahrenheit 451“ oder alles von Marc Elsberg das kollektive Bewusstsein prägen? Was sagt das über uns aus?
Die Utopie ist dabei zunächst deutlich älter als ihr düsteres Geschwisterkind. Während antike Philosophen mitnichten als hoffnungsvolle Optimisten zu bezeichnen sind, – die „Politea“ ist die Beschreibung einer gerechten Stadt und dadurch auch eine unverhohlene Kritik der bestehenden Verhältnisse – so hatten sie durchaus eine positive Vorstellung davon, wie eine bessere Gesellschaft auszusehen habe. Auch die Zeit der Aufklärung und ihre Autoren kritisieren die bestehenden Verhältnisse unter anderem dadurch, dass sie Gegenentwürfe produzieren (Rousseaus kann hier als Beispiel dienen). Die Utopie ist nicht nur ein Entwurf einer besseren Gesellschaft, sie ist auch immer eine Kritik an den bestehenden Verhältnissen, die im Hinblick auf Ideale wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hoffnungslos versagt. Durch den Vergleich mit einer Gesellschaft, die diesen Idealen näherkommt, zeigt sie jedoch zugleich auch einen Weg auf, um diese Ungerechtigkeiten zu überwinden.
Auch die Dystopie ist eine Gesellschaftskritik, soviel Gemeinsamkeit besteht zwischen den beiden Gattungen. Die dystopische Gesellschaftskritik bedient sich dabei allerdings nicht eines kontrastierenden Vergleichs mit einer erstrebenswerteren Gesellschaftsordnung, sondern überspitzt bestehende unmoralische Verhältnisse, um die Gesellschaft so mit ihrem eigenen Schatten zu konfrontieren. Hier liegt auch der Grund, warum eine Vielzahl von apokalyptischen „Vorhersagen“ wahr geworden sind.
Die Dystopie radikalisiert und überspitzt bestehende Verhältnisse, wenn sich die Gesellschaft nicht verändert und auf ihrem eingeschlagenen Pfad bleibt, dann werden die Extrapolationen unweigerlich wahr. Das mag auf den ersten Blick wie Weisheit oder große Erkenntnis erscheinen und sorgt sicherlich für weitere Umsätze, hat aber auch einen gigantischen Nachteil: Dystopien zeigen schlicht keinen Weg auf, eine gerechte Stadt aufzubauen. Wer die Gesellschaft nur mit ihrem eigenen verlängerten Schatten konfrontiert, der hat keine Antwort darauf, was stattdessen zu tun ist. Gesellschaftsordnungen und die Relationen in ihnen lassen sich zwar negieren, davon ist aber noch nicht gezeigt, wie man von hier aus weiter gehen kann. Die Komplexität dieser Strukturen macht ein einfaches Unterlassen schlichtweg nicht möglich, ohne die gesamte Gesellschaft auf einen Schlag anzuhalten.
Im Gegensatz dazu konfrontiert die Utopie die bestehende Gesellschaft nicht mit ihrem eigenen Schatten – die offensichtliche Unzulänglichkeit der bestehenden Strukturen ist für eine Utopie vorausgesetzt. Stattdessen wird die reale Gesellschaft mit einer „Stadt der Wörter“1 konfrontiert, die als erreichbar und in allen Belangen besser und gerechter daherkommt. Um im Bild zu bleiben: Utopien zeigen einen Weg vom Schatten (das heißt den bestehenden Verhältnissen) ins Licht. Sie erfordern Mut und Hoffnung in ihrer Konzeption und wecken daraufhin aber auch Hoffnung und Zuversicht in anderen. Sie sind Kritik und Kur in einem.
Man hat also auch noch kein neues Utopia erschaffen, wenn man sich hinstellt und erklärt, Markt, Innovation oder KI würden paradiesische Zustände auf Erden schaffen. Hier wird kein neuer, besserer Weg aufgezeigt, sondern blind herumgetappt und darauf vertraut, dass sich schon alles finden wird, auch wenn alles so weiter geht wie bisher. Das ist ein Phantasma und dient lediglich als Rechtfertigung nichts zu ändern. Damit ist das Ausbleiben von großen Utopien aber nur noch unklarer als vorher.
Um eine Dystopie zu erfassen bedarf es lediglich einer gewissen Beobachtungsgabe und einem Stift, um eine umfassende Utopie erdenken zu können, bedarf es aber zusätzlich der Hoffnung. Man muss hoffen können, dass es eine bessere Gemeinschaft geben kann und ebenso hoffen, dass sich diese auch umsetzen lässt – dass meine Mitmenschen auch daran interessiert sind, mir wirklich zuhören und die mit jeder gesellschaftlichen Veränderung einhergehenden Einschränkungen ertragen zu wollen. Nun scheint ehrliche Zuversicht ein rares Gut zu sein. Der Kapitalismus hat sich; trotz dem Leid, dass er gebiert und massiver Arbeitskämpfe; nicht nur durchgesetzt, sondern auch beschleunigt. Trotz existierendem Völkerrecht führen Staaten immer noch verheerende Kriege und schlachten Zivilisten. Währenddessen spalten sich Gesellschaften und im Hintergrund all dessen ätzt und keucht der Planet unter unserem Gewicht und Lebensstil. Trotz all dieser seit langem bekannten und sich zuspitzenden Probleme geschieht nichts, um sie anzugehen. Kein Wunder, wenn man die Hoffnung auf eine bessere Welt aufgibt.
Hoffnungslosigkeit wird zur Grundstimmung und damit auch das Denken dystopisch. Wer aber den Kopf in den Sand steckt, hat schon verloren. Nicht nur Hoffnungslosigkeit, auch Zuversicht ist ansteckend. Sind Veränderungen leicht? Nein, das hat auch niemand versprochen. Sie sind aber entgegen aller Umstände und Unwegsamkeiten möglich. Die Hoffnung aufgeben heißt auch, die Chance auf eine bessere Zukunft ins Feld zu werfen. Hermann Hesse veröffentlichte seine oben bereits erwähnte Utopie 1943. Wenn selbst die Apokalypse des zweiten Weltkriegs Utopie und Hoffnung nicht gänzlich unterdrücken kann, dann – so scheint es mir – haben auch wir das Recht (und die Pflicht) die Hoffnung hochzuhalten. Wagen wir zu hoffen und vielleicht findet sich in naher Zukunft auch eine wahre Utopie auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Stadt der Wörter (oder im Original “cities of words”) ist der Titel eines sehr gelungenen Buches von Stanley Cavell, das mich unter anderem zum Verfassen dieses Beitrags inspirierte.